Leserbrief: „Degenerative Kompetenz“

Roland Glöde appelliert in seinem Leserbrief, der Degeneration entgegenzutreten.

So rasant, wie die Technik der letzten Jahrzehnte unser Leben verändert hat, so rasant ist auch das Basiswissen, das wir Menschen zum Überleben brauchen, zurückgegangen. Viele handwerklichen Fähigkeiten wurden durch Maschinen, vereinfachte Herstellungsmethoden und automatisierte Prozesse nicht mehr benötigt und dementsprechend verlernt.

Zeitmanagement, Geburtstage, Telefonnummern, To do`s muss/kann man sich nicht mehr merken, weil das Handy oder Tablet uns das abnimmt. Socken oder Hosen flicken, kochen ohne Thermomix, Auto oder Moped schrauben, früher Selbstverständlichkeiten. Heute nicht mehr zu verstehen. Gemüse oder Salat mit den passenden Kräutern aus dem Garten? Discounter
haben diese Grundfähigkeiten überflüssig gemacht. Eigene Hühner oder Hasen, vielleicht sogar eine Ziege oder ein Wutzi im Stall? Vor 30 oder 40 Jahren nichts Besonderes. Heute ist gleich der Tierschutz oder das Veterinäramt auf dem Plan. Kurzum, das, was uns die Discounter liefern, entscheidet darüber, wie gesund wir leben oder ob wir bei einem Lieferkettenengpass überhaupt überleben.

Wenn man heute Durchfall, Husten, Kopfschmerzen oder Wanstreißen hat, ist man sofort verunsichert, ob man erst zum Hausarzt oder gleich in die Notaufnahme gehen soll. Eye to eye, nein Screen to Screen im medizinischen Beratungsgespräch, bei dem emotionale Gründe durch KI wohl nicht berücksichtigt werden können.

Rückwärtsfahren mit dem Auto ohne Rückfahrsensoren oder Rückfahrkamera, völlig undenkbar. Ohne Navi von A nach B, maximal spannend. Die Welt ist komplizierter geworden, weil wir aus Bequemlichkeit, Jahrhunderte altes Grundwissen, sprich Lebensintelligenz, versickern lassen, um es durch unsere optimierten Lebensprozesse zu ersetzen. Final soll jetzt künstliche Intelligenz unsere degenerierten Fähigkeiten kompensieren. Individualismus von früher wird es so wohl nicht mehr geben. Maschinen-, Geräte-, Computer-, Handybedienende Human Resources, die zum Erreichen ihres Ziels eine Black Box beauftragen, ohne zu wissen, wie und warum am Ende der Prozesskette das gewünschte Resultat steht. Wenn man diesen zentralen Prozess komplett outsourced und fremdvergibt, ist man selbst nur noch schwer in der Lage Dinge zu verändern oder zu verbessern.

In unserer Verantwortung liegt es, erlernte Fähigkeiten zu bewahren und weiterzugeben. Generationen von Menschen haben dies sogar ohne Schrift, mündlich geschafft. Wir sollten mit den uns zur Verfügung stehenden Mitteln, in der Lage sein, der Degeneration entgegenzutreten, und uns selbst aus der Komfortzone begeben, um Wissen und auch gesellschaftliche Werte zu erhalten und weiterzugeben. Vielleicht muss man auch wieder mal einen (technischen) Schritt zurückgehen, um im Sinne der Menschheit und zum Wohle der Welt innovative, nachhaltige Wege zu ebnen.

Um es am Ende auf den Punkt zu bringen:

Nicht

„Wer nichts macht, macht nichts falsch“,

sondern

„Der, der seine mentalen und manuellen Skills erhält, anwendet und weitergibt, macht alles richtig“.

Roland Glöde
Neuberg

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