Prof. Dr. Günther Wess begeisterte 200 „Orgelreisende“ mit einem fulminanten Konzert

(ea) – „Allerlei Kultur Erlensee e.V.“ lud am Sonntag in die Christkönigskirche ein: Prof. Dr. Günther Wess stellte auf einer „Orgelreise“ das breite Spektrum der Orgelmusik vor und begeisterte rund 200 Teilnehmer mit einem fulminanten Konzert, das weit über Erlensee hinaus Maßstäbe setzte.

Die „Orgelreise“ begann zunächst auf der Empore – wo nur einige der zahlreichen Teilnehmer Platz finden konnten – am Orgeltisch, an dem Prof. Dr. Günther Wess seit über 40 Jahren als Organist die Gottesdienste der katholischen Kirchengemeinde mit Orgelmusik bereichert. Dort erklärte er zunächst einige technische Grundbegriffe einer Orgel, zeigte an einem praktischen Beispiel, wie eine Pfeife funktioniert und erläuterte unter anderem Trompetenregister, Klangfarben und die Benutzung der Pedale, jeweils untermalt mit dem dazu passenden Klangerlebnis.

Prof. Dr. Günther Wess erläutert auf der Empore Grundfunktionen der Orgel

Danach nahmen alle Teilnehmer im Kirchenschiff Platz und wurden spätestens hier zu wahren „Orgelreisenden“: Prof. Dr. Günther Wess nahm sie mit auf eine „Orgelreise“ durch verschiedene musikalische Epochen, Stile und Stimmungen.

Der weltberühmte Organist Cameron Carpenter provoziert mit der Aussage „die Orgel hat eine Vergangenheit aber keine Zukunft“. Die Begrenzung auf den kirchlichen Raum, die Einschränkung auf religiöse Stücke und viele ungewartete schlechte Instrumente haben viel zu dieser Situation beigetragen. Seine transportable, gigantische „Touring Orgel“, mit der er weltweit unterwegs ist, oder das neue Instrument in der Elbphilharmonie sprechen aber eine andere Sprache. Fast jede Art von Musik läßt sich auf der Orgel spielen.

Rund 200 „Orgelreisende“ erlebten ein Konzert der Spitzenklasse

Und so stand das Konzert unter dem Motto „Orgelreise“: Eine knappe Stunde der Besinnung zur Entschleunigung, Kontemplation und Unterhaltung.

Die Reise begann mit einem Jazz-Stück zur Auflockerung: Spontaneität, Vitalität, Energie, und Vielfalt kamen zum Ausdruck. Anschließend begegnete man dem jungen Johann Sebastian Bach, der um 1705 gerade seinen ersten „Welthit“ geschrieben hat, Toccata und Fuge d-moll, Aufbruch und flüchtige Stimmen mit vollem Orgelwerk. Allerdings war zur damaligen Zeit Bach im Unterschied zu seinem Zeitgenossen Händel nur regional bekannt.

Es wurde schließlich Zeit für eine Rast zum Entschleunigen mit einem langsamen „Tanzstück“, Joel Martinson, Aria on a Chaconne (1960). Ein besonderer Reiz dieses Stückes ist der Dialog von zwei Stimmen in der rechten Hand.

Danach traf man wieder auf Bach, nun 15 Jahre älter, mit einem seiner komplexesten Orgelwerke, Fantasie g-moll. Er war geplagt von inneren Konflikten und Sorgen: Tod seiner ersten Frau und erfolglose Bewerbung auf eine Organistenstelle in Hamburg. Mit komplexen Harmoniefolgen, die am Althergebrachten  rütteln, chromatischen Entwicklungen sowie unterschiedlichen Rhythmen und Stimmungen ist Bach musikalisch seiner Zeit bereits weit voraus. Das Stück endet aber versöhnlich in G-Dur.

Und nun Szenenwechsel: Reisende bringen den Tango aus Argentinien mit. Der „Tango Argentino“ klingt weich und melancholisch im Unterschied zum „Internationalen Tango“, der eher aggressiv und hart daherkommt. Der „Tango Argentino“ braucht kein Schlagwerk. Er kommt mit rhythmischen Betonungen der Stimmen aus. Astor Piazzolla, Oblivion (1972), war ein Meister seines Faches.

Interessant die nächsten drei Stücke von Komponisten aus Frankreich, Deutschland und Amerika. Die „Litanei“ (1937) des Franzosen Jehan Alain konfrontierte die Zuhörer mit einer menschlichen Grenzsituation, wie beispielsweise das Bild „Der Schrei“ von Eduard Munch. Unverarbeitete traumatische Erlebnisse werden in Musik umgesetzt. Eine ungleichmäßig geordnete Tonfolge wird ununterbrochen wiederholt. Das Tempo steigert sich. Die magische Gewalt wiederholter Rhythmen erzeugt einen ekstatischen Zustand bis zum Tornado der Besessenheit, der alles wegfegt, was sich ihm in den Weg stellt. Das Stück endet unversöhnt weder in Dur noch in Moll.

Karg-Elert gab den Zuhörern andere Antworten. Beeinflusst durch Amerika schreibt er Stücke für Kinoorgel. In dem mondänen, süßlich schwülen Walzer, Valse Mignonne  (um 1930), erweist er sich durch Übertreibungen und Brüchen als ironischer Kritiker der Zwanziger Jahre und ihrer Salonorchestermusik. Ein Meister der Groteske. Sobald sich eine Stimmung aufgebaut hat, wird sie schon wieder verfremdet und zerstört.

Die Reise endete in Amerika mit Jazz in komponierter Form im Stil des „Broadways“. Die Ausschnitte aus der „Rhapsodie in Blue“ von George Gershwin (1924) sind Spiegel des amerikanischen Lebensgefühls. Einzigartig, etwas Neues und nicht zu vergleichen mit der Schwere der europäischen Moderne.

Und so endete schließlich die „Orgelreise“ wie sie begonnen hat: mit Orgelmusik.

Was dann folgte, war ein weiteres Novum in der Christkönigskirche: Standing Ovations der „Orgelreisenden“ sorgten nicht nur für eine kurze Zugabe des Orgelvirtuosen sondern waren Ausdruck einer großen Begeisterung, die schließlich auch darin mündete, dass der Wunsch nach weiteren Orgelkonzerten sehr oft zu vernehmen war.

Dr. Axel Friedrich sprach Prof. Dr. Günther Wess und der katholischen Kirchengemeinde im Namen des Kulturvereins „Allerlei Kultur Erlensee e.V.“ ein herzliches Dankeschön aus. Wie er am Ende der Veranstaltung mitteilte, war dieses einzigartige Orgelkonzert von allen Beteiligten speziell Geistlichem Rat Pfarrer Günter Brennfleck gewidmet, der sich in wenigen Monaten aus Erlensee verabschieden und seinen Ruhestand antreten wird.

Auf dem Titelfoto: Prof. Dr. Günther Wess an seinem Orgeltisch auf der überfüllten Empore mit einigen der Teilnehmer

Bericht und Fotos: Markus Sommerfeld

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